Sexualisierte Gewalt ist kein fernes Phänomen. Sie begegnet uns im Alltag, in Partnerschaften, online – und erschreckenderweise auch dort, wo Menschen eigentlich Schutz, Fürsorge und Respekt erwarten: während Schwangerschaft, Geburt und im Wochenbett. Gerade dann, wenn Personen besonders verletzlich sind und auf medizinische Betreuung angewiesen bleiben, kommt es immer wieder zu Übergriffen, Entwürdigung und Machtmissbrauch.
Triggerwarnung: Dieser Artikel thematisiert sexualisierte Gewalt, Grenzverletzungen und traumatisierende Erfahrungen rund um Schwangerschaft und Geburt.
Ein Tabu mitten im Gesundheitssystem
In der Geburtshilfe nimmt sexualisierte Gewalt viele Formen an: Untersuchungen ohne Einwilligung, entwertende Bemerkungen, übergriffige Handlungen, Bagatellisierung von Schmerz, aber auch psychische Manipulation wie Gaslighting. Aussagen wie „Das ist doch normal“, „Stellen Sie sich nicht so an“ oder „Das haben Sie falsch verstanden“ sind für viele Betroffene Teil ihrer Geburtserfahrung.
Sexualisierte Gewalt meint physische, psychische, sprachliche und strukturelle Gewalt, die in die körperliche oder sexuelle Selbstbestimmung eingreift. In der Geburtshilfe zeigt sie sich häufig durch:
- vaginale oder anale Untersuchungen ohne Einwilligung
- übergriffige oder sexualisierte Kommentare
- entwertende Bemerkungen über Schmerz und Grenzen
- unnötige Intimexposition
- hierarchische Entscheidungen ohne Aufklärung
Eine traumatische Geburt entsteht nicht nur durch medizinische Komplikationen – sondern oft durch fehlenden Respekt, mangelnde Kommunikation und Kontrollverlust.
Diese Dynamiken sind kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem – verstärkt durch hierarchische Kliniksysteme, Zeitdruck, mangelnde Sensibilisierung und gesellschaftliche Tabus. Die Folgen sind gravierend: Kontrollverlust, Scham, Retraumatisierung, Angst vor weiteren Schwangerschaften und ein tiefes Misstrauen gegenüber medizinischem Personal.
- 10–30 % der Geburten werden als traumatisch erlebt,
- bis zu 30 % der Gebärenden entwickeln postpartale Depressionen,
- 15–20 % aller Schwangerschaften enden in Fehlgeburten.
Trotz dieser Zahlen wird über die schwierigen, schmerzhaften und traumatischen Aspekte von Schwangerschaft und Geburt kaum gesprochen. Obwohl viele Frauen von Grenzverletzungen berichten, bleibt sexualisierte Gewalt in der Geburt oft unsichtbar. Gründe dafür sind:
- gesellschaftliche Tabuisierung von traumatischen Geburten
- Scham und Schuldgefühle
- Normalisierung von Gewalt („So ist Geburt eben“)
- Abhängigkeit von medizinischem Personal
- fehlende Sprache für belastende Erlebnisse
Der gesellschaftliche Druck auf schwangere Körper
Parallel dazu präsentieren soziale Medien Schwangerschaft und Mutterschaft als perfekt gestylte Idylle. Der „Pregnancy Glow“, makellose Körper, sanfte Geburtsinszenierungen – all das erzeugt Erwartungen, die kaum erfüllbar sind. Diesem Druck stehen Erschöpfung, Schmerz, Stillprobleme, Angst oder Trauer gegenüber, über die kaum jemand spricht.
Hinzu kommt die Sexualisierung von Müttern: Begriffe wie „MILF“, „Hot Mum“ oder „Mommy Goals“ zeigen, wie sehr schwangere und gebärende Körper vom „Male Gaze“ geprägt sind – einem patriarchalen Blick, der Frauen bewertet, objektiviert und normiert.
- 70 % der Frauen berichten, dass ihr Körper nach der Geburt sexualisiert kommentiert wurde.
Körper werden bewertet, begutachtet, kontrolliert. Diese Objektifizierung beeinflusst Selbstwert, Autonomie und psychische Gesundheit – und verstärkt patriarchale Strukturen, die in der Geburtshilfe ohnehin präsent sind.
Wie historisch gewachsene Machtstrukturen Geburt prägen
Geburt war über Jahrtausende ein von Frauen getragenes Geschehen – begleitet von Hebammen, Müttern, Großmüttern. Mit der Professionalisierung der Medizin übernahmen jedoch zunehmend Männer die Kontrolle, während die Erfahrung der Gebärenden entwertet wurde. Auch heute bestimmen oft Hierarchien und medizinische Routinen darüber, was mit einem Körper geschieht – nicht die Person, die ihn bewohnt
- Fachpersonal kontrolliert Entscheidungen
- Hierarchien erschweren Widerspruch
- Intuition und Selbstbestimmung der Gebärenden werden abgewertet
- Diese Verschiebung erklärt, warum viele Betroffene das Gefühl haben, während der Geburt nicht als Subjekt, sondern als Objekt behandelt worden zu sein: als „Fall“, als „Patientin“, nicht als handelnde Person.
Was wir verändern müssen
Um sexualisierte Gewalt in der Geburtshilfe zu verhindern, braucht es strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen:
1. Traumasensible Geburtshilfe
Fachkräfte benötigen Schulungen in respektvoller Kommunikation, dem Einholen informierter Einwilligung und im Umgang mit traumatisierten Personen. Supervision und Raum für Selbstreflexion sind essenziell.
2. Ehrlichkeit über Schwangerschaft und Geburt
Fehlgeburten, Depressionen, Stillprobleme und traumatische Geburten müssen öffentlich besprechbar sein – ohne Scham, ohne Beschönigung. Nur so entsteht ein realistisches Bild, das unterstützt statt Druck erzeugt.
3. Aufbrechen patriarchaler Strukturen
Der Körper ist kein Objekt. Entscheidungen über Untersuchungen, Eingriffe und Geburtsprozesse müssen gemeinsam getroffen werden – basierend auf Respekt, Autonomie und echter Aufklärung.
4. Unterstützung für Betroffene
Austausch mit anderen, psychologische Begleitung und validierende Sprache können enorm entlasten. Vor allem aber braucht es die gesellschaftliche Anerkennung, dass diese Erfahrungen real und verletzend sind.
Fazit: Dein Körper gehört dir – jetzt und immer
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett müssen sichere Räume sein. Räume, in denen Grenzen geachtet, Stimmen gehört und Entscheidungen respektiert werden. Gewalt – ob körperlich, sprachlich oder strukturell – hat dort keinen Platz.
Das Schweigen über sexualisierte Gewalt in der Geburtshilfe zu brechen bedeutet, Betroffenen Glauben zu schenken, Machtstrukturen zu hinterfragen und den Weg für echte Selbstbestimmung zu öffnen.
Dein Körper gehört dir.
Deine Erfahrung zählt.
Deine Stimme ist wichtig.
© by Verena Arps-Roelle
Als Betroffene, Angehörige*r oder Fachkraft findest du hier anonym, kostenfrei und niedrigschwellig Unterstützung:
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
www.hilfetelefon.de
116 016
Hilfetelefon Schwierige Geburt
0228 9295 9970
www.hilfetelefon-schwierige-geburt.de
Verein Traum(a) Geburt e. V.
www.traumageburtev.de
Schatten und Licht e. V. – Selbsthilfeorganisation zu peripartalen psychischen Erkrankungen
www.schatten-und-licht.de
Lara – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, trans*, inter* und nicht-binären Personen
www.lara-berlin.d